Anika durfte heute zweimal waschwuscheln

Eigentlich wollte ich heute zu Vanessa, aber Vanessa war nicht da. Sie hatte frei. Zuerst dachte ich mir, ich warte. Ein Tag mehr Wildwuchs ist dann ja auch kein Beinbruch, aber nachdem mir morgens um halb Zehn spontan eingefallen war, dass meinen Haaren ein Kürzungsaktion gut täte, wollte ich das auch heute noch durch haben. Und wie das so ist bei charmanten Kerlen wie mir: die nächste Dame stand schon parat: Anika (mit nur einem „n“, wie ich später an der Trinkgelddose lesen konnte.

Anika liebt ihren Beruf und sie möchte, das andere ihn auch lieben. Deshalb erklärt sie wie ein Zahnarzt kurz vor der Wurzelbehandlung jeden der Schritte, den sie zu tun gedenkt, hinterfragt Dinge, zu denen ich keine Meinung habe („Ihre Haare laufen hinten so V-förmig zusammen. Soll ich das entsprechend dem Wuchs schneiden oder doch eher kantig?“ „Äh, ähhhh, hm, also. Ähhhh. Letzteres.“ „Also kantig?“ „Ja, genau. Kantig.“) und erklärt dann die Dinge, die sie vorher erläutert hat nochmal in dem Moment, in dem sie sie tut („Ich schneide hier hinten jetzt kantig. Ihr Haar läuft eigentlich so V-förmig, aber wir hatten ja gesagt: kantig. Das passt auch besser, sie haben so einen breiten Hals* und breite Schultern, da wäre V-förmig nichts“  *an ihrem Charme muss sie allerdings noch arbeiten). Außerdem steht sie total auf Kantenschneiden („Ich mag Kantenschneiden total. Und bin da gaaaaaaanz penibel.“) und hat gefühlt achtzigmal an der gleichen Stelle nochmal ein oder zwei µ entfernt. Alles in allem war das sehr entspannend – auch aufgrund der Tatsache, dass sie zwar gerne und viel redete, aber nicht unbedingt zwecks Konversation. Ein gelegentliches, zustimmendes „Hm“ („Kantig sollte sein, richtig“ „Hm“) oder ein ablehnendes „Hmhm“ („Die Augenbrauen auch kürzen?“ „Hmhm“) reichte völlig. Und zum Finale wurden die Haare nochmal gewaschen. Offiziell, damit nicht den ganzen Tag Haarfitzelchen auf meinen Schreibtisch rieseln würden, tatsächlich glaube ich aber, dass Anika einfach nur faszinierte, dass etwas Steingraues wie meine Haare doch so weich sein kann. Also durfte sie nochmal waschwuscheln und ich leise schnurren. Kurz danach trennten sich unsere Wege und ich ging von dannen – mit gekürzten und doppelt gewaschenen Haaren, während Anika zurückblieb, ein Lächeln auf ihren Lippen, zufrieden ob des zweifachen Waschwuschelns und des knisternden Scheinchens in ihrer Trinkgelddose auf der „Anika“ steht. Mit nur einem „n“. Vielleicht sehen wir uns schon bald wieder – es sei denn Vanessa hat nicht frei an dem Tag, an dem mir einfällt, dass meine Haare mal wieder einen Frisörbesuch nötig hätten.

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